
„Der Weg bis zur vollständigen Heilung ist noch sehr weit“
Was waren die Erkenntnisse des 23. dagnä-Workshops zur HIV/Aids-Versorgung? Welche Rolle wird zukünftig das Thema Heilung, welche das Thema Hepatitis C spielen? Interview mit Tagungsleiter und dagnä-Vorstand, Dr. Knud Schewe (oberes Foto).
Herr Dr. Schewe, die Workshop-Teilnehmer hatten großes Interesse an der Keynote lecture „Heilung: Science oder Fiction“: Was kann man generell von den immer häufiger auf Aids-Kongressen präsentierten Untersuchungen von „funktionell“ geheilten Patienten, die auf ihre medikamentöse Therapie verzichten können, für zukünftige Heilungsoptionen lernen?
Vor allem, dass man nie die Hoffnung auf Heilung aufgeben darf und dass es immer wieder wissenschaftliche Überraschungen geben wird. Eine weitere Lehre ist die wachsende Bedeutung einer engen Zusammenarbeit von Grundlagenforschern und klinisch forschenden Ärzten.
Wird irgendwann eine „sterile“ Heilung, also eine vollständige Entfernung der Viren aus dem Körper, möglich sein?
Never say never – ich würde es heute nicht mehr grundsätzlich ausschließen, die Forschung macht im Bereich Heilung große Fortschritte. Allerdings ist der Weg bis zu einer vollständigen Heilung noch sehr lang. Wir reden hier über 15, 20 Jahre. Dank der spezialisierten ärztlichen Versorgung und vertieftem Wissen haben wir jedoch schon heute einen sehr guten Behandlungsstand. Hinzu kommen sehr gut wirksame und verträglichere Medikamente. Mit deren Kombinationsmöglichkeiten lässt sich heute für die meisten individuellen Konstellationen eine entsprechend individualisierte Therapie einleiten. Allerdings gibt es nach wie vor eine Vielzahl an Herausforderungen: Die Interaktionen zwischen HIV-Medikamenten und Begleitmedikationen bei unseren älter werdenden Patienten mit Komorbiditäten werden immer komplexer. Late Presenter bleiben ein großes Thema. Hier drohen erhebliche Risiken. Das Monitoring des Therapieerfolgs und die Überwachung mit Blick auf mögliche Nebenwirkungen sind bei lebenslanger Therapie unerlässlich. Von daher ist es vor allem wichtig, dass die HIV-Behandlung unbedingt in die Hand eines HIV-Spezialisten gehört.
Sind angesichts der Individualität der Behandlung für die HIV-Medizin Leitlinien hilfreich?
Absolut. Die Zeiten, in denen wir kaum Therapiealternativen hatten und mit dem Rücken zur Wand standen, sind zwar glücklicherweise vorbei. Durch die heute verfügbaren Medikamente und deren theoretisch kaum überschaubare Menge von Kombinationsmöglichkeiten ist es wichtig, dass die Fachgesellschaft regelmäßig die Datenlage überprüft und entsprechende Empfehlungen zum Therapiestart und zu den optimalen Kombinationen abgibt. Die immer besser werdende Behandlung hat bisher schon zu bemerkenswerten Erfolgen hinsichtlich der Lebenszeit und -qualität von HIV-Positiven beigetragen. Studien von der IAS haben gezeigt, dass eine leitlinientreue Therapie bessere Therapieerfolge ermöglicht. Dennoch wird es immer Situationen geben, im Einzelfall von den Empfehlungen abzuweichen. Dies sollte aber nur durch einen in der HIV-Medizin erfahrenen Kollegen erfolgen.
Für welche Patienten werden jetzt noch neue Medikamente oder -kombinationen gebraucht?
Insgesamt ist die Versorgungssituation gut. Es gibt aber weiter Patientengruppen mit besonderem Behandlungsbedarf: Patienten mit Nierenerkrankungen, mit erheblichen Adhärenzproblemen, mit multiresistenten Viren, mit Koinfektionen wie Hepatitis C, mit Unverträglichkeiten. Die Medikamentenentwicklung im HIV-Bereich ist zwar ruhiger geworden, aber es gibt weiterhin Forschungsbedarf und Optimierungspotenzial im Sinne von „Feintuning“ oder bei der Vereinfachung der Applikation. Allerdings liegt gerade darin auch eine Gefahr, im Sinne von: einfache Therapie, ich schreibe eine Pille auf und alles funktioniert – dass sich dann eben auch Leute an die Behandlung trauen, die eigentlich lieber die Finger davon lassen sollten. Denn es ist alles andere als einfach: Eine individualisierte Therapie, das intensive virologische Monitoring, das Nebenwirkungsmanagement, die intensive Beratung, dies alles erfordert nicht nur eine hohe Qualifikation des Behandlers, sondern auch einen hohen Zeiteinsatz.
Viel mehr Bewegung als bei der Entwicklung neuer HIV-Wirkstoffe ist ja offensichtlich im HCV-Bereich. Kommen die neuen, bereits auf dem Markt befindlichen und in naher Zukunft zu erwartenden Hepatitis-Medikamente auch HIV-/HCV-Koinfizierten zugute? Gibt es hierzu bereits ausreichend Daten?
Die derzeit verfügbaren neuen HCV-Medikamente kommen einigen HIV-Patienten durchaus zugute. Es gibt jedoch erhebliche Probleme mit der Verträglichkeit und den Interaktionen mit den HIVMedikamenten. Die in Entwicklung befindlichen neuen Hepatitis C-Medikamente werden nach der derzeitigen (obwohl noch nicht sehr umfangreichen) Datenlage teilweise besser mit HIV-Medikamenten kombinierbar sein. Sie werden auch besser verträglich und viel einfacher einzunehmen sein, es wird weniger Wechselwirkungen geben. Die Therapiedauer wird bei vielen Patienten auf bis zu drei Monate verkürzt werden können, auch eine interferonfreie Therapie ist in greifbare Nähe gerückt.
Stichwort infektiologische Erkrankungen wie HIV oder HCV: Ist das Problem der fehlenden strukturierten und anerkannten infektiologischen Weiterbildung der Niedergelassenen gelöst?
Leider nein, aber ein erster Schritt ist getan: Die von der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie (DGI) und der dagnä gegründete Akademie für Infektionsmedizin hat in den letzten Monaten eine Vielzahl von Kursen zur infektiologischen Weiterbildung und Zertifizierung in ganz Deutschland angeboten, die gut angenommen wurden. So kamen wir auch dem Anliegen vieler Mitglieder entgegen, sich infektiologisch breiter aufzustellen und sie bei der Erlangung des Zertifikates „Infektiologe DGI“ zu unterstützen. Weitere Schritte müssen jetzt aber folgen: Eine Anerkennung durch die Ärztekammern ist dringend erforderlich. Die meisten Patienten mit Infektionen gehen zuerst zu einem niedergelassenen Arzt und nicht in die Klinik. Ein Großteil der Antibiotika in Deutschland werden im ambulanten Bereich verordnet. Hier sehen wir z. B. bei Harnwegsinfektionen immer häufiger multiresistente Erreger. Gonokokken sind mittlerweile in der Hälfte der Fälle gegen die lange Zeit verwendete Standardtherapie resistent. Erste Resistenzen gegen Cephalosporine sind in Deutschland beobachtet worden. Jüngste Vorfälle, etwa in Warstein, zeigen ja, dass bei Infektionen nicht nur im stationären Sektor Handlungsbedarf besteht.
Herr Dr. Schewe, vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Elke Klug. Das Interview erschien im Connexi-Konferenzbericht 4/2013. Wir danken dem Herausgeber und Verlag The Paideia Group für die Möglichkeit der Wiedergabe.